Keep calm and carry on: Wundversorgung im UK

Rund 80 000 Einwohner:innen vom UK leben mit einer oder mehreren chronischen Wunden. Die Kosten für die Versorgung aller Wundpatient:innen im Land belaufen sich auf zwischen 4,5 und 5,1 Milliarden Pfund pro Jahr. Wie geht das Vereinigte Königreich mit dem Thema um und was können wir davon lernen?

Die aktuelle Situation

Im UK bestehen grundsätzlich keine Unterschiede im Zugang zur Gesundheitsversorgung. Dennoch variiert das Gesundheitsniveau zwischen den sozialen Schichten innerhalb des Landes, etwa in England: Die Bevölkerung im Norden ist stärker von gesundheitlichen Ungleichheiten betroffen als jene im südlichen Teil. Darüber hinaus kommen bei Frauen diese Ungleichheiten stärker zum Tragen als bei Männern.

Innerhalb der Bevölkerung vom UK haben fast 15 von 10 000 Personen chronische Wunden. Das bedeutet, dass insgesamt rund 80 000 Einwohner:innen des Landes mit einer oder mehreren chronischen Wunden leben. Zwischen 2017 und 2018 wurden insgesamt 3,8 Millionen Menschen wegen einer Wunde durch das öffentliche Gesundheitssystem vom UK (NHS) versorgt. Mehr als zwei Drittel aller Wunden verheilten innerhalb eines Jahres, wobei das nur bei etwa der Hälfte der chronischen Wunden der Fall war. Die Kosten für die Behandlung von Wundpatient:innen durch das öffentliche Gesundheitssystem beliefen sich zwischen 2017 und 2018 auf insgesamt 8,3 Milliarden Pfund. 5,6 Milliarden davon flossen in die Versorgung nicht verheilter Wunden. Die Kosten pro Patient:in für nicht verheilte Wunden liegen im Schnitt um 135 Prozent höher  als jene für verheilte Wunden. Die Behandlung von chronischen Wunden erfolgt im UK in verschiedenen Settings und basiert oftmals nicht auf aktueller Evidenz. Mehrere Gesundheitsprofessionen sind in die Versorgung involviert. Das Level an Expertise ist dabei unterschiedlich. All das bewirkt, dass die Versorgung in der Praxis stark variieren kann.

Strategien für eine bessere Wundversorgung

National Wound Care Strategy Programme: Ein verzweigtes Versorgungssystem verbessern

Die Versorgung von Wundpatient:innen im UK ist nicht optimal organisiert. Auch die praktische Umsetzung weist Mängel auf. Um dieser Situation zu begegnen und langfristige Verbesserungen herbeizuführen, wurde im September 2018 das National Wound Care Strategy Programme (NWCSP) ins Leben gerufen. Es entstand aus mehreren vorhergehenden Initiativen, die sich mit den Herausforderungen in der Wundversorgung auseinandersetzten. Erklärtes Ziel des Programms ist es, Leitlinien zu entwickeln, die dazu beitragen, dass Wunden erst gar nicht entstehen bzw. dass diese optimal und effektiv behandelt werden können. Ein zentraler Ausgangspunkt für diese Leitlinien ist, dass die Versorgung chronischer Wunden nicht als klinisch isoliertes Problem betrachtet wird. Vielmehr setzt das NWCSP im gesamten Prozess darauf, dass auch die Behandlung von Komorbiditäten eingeschlossen wird. Erkrankungen wie etwa Diabetes oder chronisch-venöse Insuffizienz können dazu führen, dass Wunden rascher entstehen, sich deren Heilung verzögert oder diese nicht möglich ist. Für den Erfolg des NWCSP wird entscheidend sein, dass alle in die Wundversorgung involvierten Berufsgruppen und Dienste wirksam zusammenarbeiten.

a. Gemeinsames Rudern erfordert viel Kraft, Ausdauer und Koordination. Genauso verhält es sich bei der Versorgung von Wundpatient:innen in UK und in Österreich. (Foto: Matteo Vistocco auf Unsplash)

The MARS Project: Amputationen und ihren Ursachen regional entgegenwirken

Eine Amputation der unteren Extremitäten wird häufig notwendig, wenn ein Geschwür bei Diabetiker:innen nicht adäquat versorgt wird. Auch die periphere arterielle Verschlusskrankheit oder Lymphödeme können derartige Geschwüre verursachen und folglich zu Amputationen führen. Im Großraum Manchester liegt die Amputationsrate bei Extremitäten um 36 Prozent über dem nationalen Durchschnitt. Innerhalb eines Jahres werden allein in diesem Teil vom UK tausend Amputationen an den unteren Extremitäten durchgeführt. Die Hälfte dieser Amputationen könnte im Vorfeld verhindert werden. Die Manchester Amputation Reduction Strategy (MARS) setzt genau hier an und zielt darauf ab, die Amputationsrate bei Extremitäten zumindest auf den nationalen Durchschnitt zu senken. Das Projekt erarbeitet eine Strategie, mit der chronische Geschwüre an Füßen und Beinen verhindert, besser behandelt und rascher geheilt werden können. Mehr als 40 nationale und regionale Stakeholder sind in die Entwicklung dieser Strategie eingebunden. Geplant ist, ein koordiniertes Management für chronische Geschwüre an den Füßen und Beinen und einen einheitlichen Überweisungsweg in der Versorgung zu etablieren. Auch spezialisierte Teams zur Wundbehandlung entstehen. Die Strategie basiert auf einer Analyse des Systems in seiner ganzen Zusammenwirkung. Damit die Versorgung genau an den Bedürfnissen der Betroffenen ausrichtet werden kann, werden die entsprechenden Dienstleistungen im Vorfeld evaluiert. All diese Maßnahmen sollen dazu führen, dass die Ungleichheiten, die in der Behandlung der Patient:innen und auch bei den Behandlungsergebnissen bestehen, verringert werden. MARS soll bewirken, dass die Prävalenz chronischer Wunden innerhalb von fünf Jahren um 15 Prozent zurückgeht. Die Patient:innen und ihre Erfahrungen sollen im Zentrum des Behandlungsprozesses stehen. Darüber hinaus soll die Kommunikation zwischen dem Gesundheitspersonal und den Betroffenen durch technische Anwendungen erleichtert werden.

Hinschauen statt Wegschaun: Awareness und Empowerment

„Legs Matter!“, also „Beine sind wichtig!“, ist gleichzeitig Titel und Aufruf einer Initiative aus dem UK, die Bewusstsein für mehr Bein- und Fußgesundheit schaffen will. Vom 11. bis 15. Oktober 2021 richtete dieses Bündnis acht gemeinnütziger Gesundheitsorganisationen die Legs Matter Week aus. Dem Thema Wunden und deren Vorbeugung kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Mit Events und Infomaterial, welche sich sowohl an Betroffene wie auch Gesundheitsversorger richten, wollen sie das Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung steigern und Wissen über hochqualitative Wundversorgung fördern.

Die Lindsay Leg Club Foundation hat sich zum Ziel gesetzt, das Leiden von Patient:innen mit chronischen Beinwunden zu mindern, indem sie Patient:innen motiviert und befähigt, eine aktive Rolle in der Wundbehandlung einzunehmen. Ganz besonderes Augenmerk wird auch darauf gelegt, das mit der Erkrankung verbundene Stigma zu verringern. In Lindsay Leg Clubs treffen Patient:innen auf Expert:innen und aufeinander, um Erfahrungen auszutauschen und Neues zu lernen. Auch Bewusstseinsbildung bei Pflegekräften, anderen Gesundheitsberufen und der breiten Öffentlichkeit steht am Programm.

Was können wir vom UK lernen?

In Österreich fehlt es im Bereich der chronischen Wunden im Vergleich zum UK an einer ähnlich fundierten wissenschaftlichen Datenlage. Diese könnte die Grundlage für eine überregionale Strategie bilden, die die aktuelle Versorgungssituation nachhaltig verbessert.

Die Kompetenzen, die beim jeweils behandelnden Gesundheitspersonal liegen, variieren im Vergleich zwischen den beiden Ländern. So können beispielsweise im UK Pflegekräfte Verordnungen für Verbandsmaterial ausstellen. In Österreich ist dies, mit wenigen Ausnahmen (wie dem steirischen Wundkoffer), allein Ärzt:innen vorbehalten. Pflegekräfte und Ärzt:innen müssen sich daher noch enger miteinander abstimmen, um eine hohe Versorgungsqualität zu gewährleisten. Wie genau diese Koordination aussehen soll, ist nicht formal festgehalten.

Wie im UK mangelt es auch im österreichischen Gesundheitssystem an einer koordinierten Vorgehensweise bei der Behandlung chronischer Wunden. Die regionalen Unterschiede, die im UK bei der Versorgung der Patient:innen bestehen, sind auch für Österreich wahrscheinlich. Die konkreten Daten dazu fehlen derzeit, doch die neun Bundesländer verfolgen unterschiedliche Ansätze.

Ein Modell wie das MARS Project, das bei Risikogruppen ansetzt, Patient:innen miteinbindet und die Vorsorge stark ins Zentrum rückt, wäre auch hierzulande wünschenswert. Ein stärkeres Augenmerk auf Kampagnen für Bewusstsein und Information sowie die Vernetzung von Wundpatientinnen sind weitere Punkte, die wir uns durchaus vom UK abschauen sollten.

(Text: Edeltraud Günthör & Conny Schneider, 08.07.2022)

Quellen:

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Guest JFFuller GWVowden P. Cohort study evaluating the burden of wounds to the UK’s National Health Service in 2017/2018: update from 2012/2013. 
Guest JF, Ayoub N, McIlwraith T, Uchegbu I, Gerrish A, Weidlich D, Vowden K, Vowden P. Health economic burden that different wound types impose on the UK’s National Health Service. Int Wound J. 2017 Apr;14(2):322-330. doi: 10.1111/iwj.12603
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The National Wound Care Strategy Program. https://www.nationalwoundcarestrategy.net/about-the-nwcsp/
The Mars Project. https://www.themarsproject.co.uk/executive-summary/
Legs matter. https://legsmatter.org/The Lindsay Leg Club Foundation. https://www.legclub.org/